Das 9-Euro-Ticket: Eine Chance für Menschen in Armut

Zwischen Juni und August 2022 konnten Fahrgäste für neun Euro im Monat bundesweit im Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) reisen.


Mit dem 9-Euro-Ticket in Bus und Bahn

In Zusammenarbeit mit dem Hamburger Verkehrsverbund (hvv) untersuchen Christoph Aberle und sein Team vom Institut für Verkehrsplanung und Logistik der TU Hamburg, welche Auswirkungen das Angebot auf einkommensarme Menschen hatte. 

Was erhoffen Sie sich von den Interviews? 
Wir befragen 30 Personen, die von weniger als 900 Euro im Monat leben. Damit ergänzen wir quantitative Erhebungen, beispielsweise des hvv, mit einem Fokus auf Menschen in Armut. Die Antworten der Betroffenen helfen uns, soziale Ausgrenzung besser zu verstehen und politische Maßnahmen zu empfehlen. Letztendlich wollen wir Mobilitätsarmut bekämpfen und Möglichkeitsräume für Betroffene eröffnen und erweitern. 

Foto: Canva

Nutzen die Menschen den ÖPNV durch das 9-Euro-Ticket verstärkt? 
Eindeutig ja. Die Befragten sind begeistert von der Einfachheit des 9-Euro-Tickets. Richtig weite Fahrten machen sie kaum, was zum Ergebnis einer hvv-Befragung passt. Vor allem Alltagswege werden häufiger zurückgelegt. Aber die Chance, mal günstig ans Meer zu kommen, nutzen sie natürlich. Um das mal preislich einzuordnen: Eine Person hat mit „Hartz IV“ nur 41 Euro im Monat für den Verkehr zur Verfügung. Im Mittel überschreiten Betroffene dieses Budget fast um das Doppelte. Der ÖPNV ist für die meisten schlichtweg zu teuer. Zwar gibt es Möglichkeiten, für kleines Geld in Hamburg mobil zu sein, aber dann müssen sie sich den Sperrzeiten und Zonengrenzen unterordnen. Das verursacht Probleme, zum Beispiel wenn ein Arzttermin in der Sperrzeit ansteht.
Sollte es das Ticket dann nicht dauerhaft geben? 
Allgemein bewerte ich das 9-Euro-Ticket aus zwei Gründen kritisch. Erstens verfolgt die kurzfristige Maßnahme keine strategischen Ziele. So bleibt etwa der Individualverkehr gegenüber dem ÖPNV weiterhin attraktiv, weil es gleichzeitig den ‚Tankrabatt‘ gibt. Zweitens befürchte ich, ein bundesweiter quasi-Nulltarif führt zu mehr Verkehr und zur weiteren Ausbreitung von Siedlungen. Dabei wäre eigentlich Verkehrsvermeidung angesagt, wenn wir unsere Klimaziele ernst nähmen. Menschen in Armut allerdings werden massiv entlastet. Sie können sich, was für viele selbstverständlich ist, sorglos im Nahverkehr bewegen. Hier sehe ich einen absoluten Gewinn an Teilhabechance – und plädiere dafür, ihnen ein ähnlich günstiges Angebot zu machen. Ein Ticket für den ganzen Stadtraum ohne Sperrzeit für 30 Euro wäre ein Anfang.


Weitere Informationen zum Thema unter www.stadtarmmobil.de sowie unter www.mobileinclusion.de 


Christoph Aberle
Foto: Carolin Büttner

Wetterstation für Biodiversität

Teststationen messen über verschiedenste Sensoren die Artenvielfalt, um so genaue Informationen über die Auswirkungen des Klimawandels auf die Menschen und ihre Umgebung zu sammeln.


Foto: Pixabay

Das Klima wandelt sich, da ist die Wissenschaft sich einig. Doch was heißt das für das Leben auf der Erde? „Es gibt zwar sehr gute Modelle für die Entwicklung des Klimas, die aus Messwerten von unzähligen Wetterstationen abgeleitet werden, ein vergleichbares Modell der Biodiversitätsentwicklung aber fehlt“, erklärt Lukas Reinhold, der das AMMOD-Projekt für die TU Hamburg betreut und eine Messstation auf dem Energieberg im Hamburger Stadtteil Georgswerder mit aufgebaut hat. Sensoren sollen automatisiert Pollen und Sporen in der Luft erfassen, pflanzliche Gerüche werden mit einer „chemische Nase“ eingestuft, Tiere werden gefilmt sowie Tierstimmen aufgenommen und klassifiziert. Ein paar Meter weiter steht eine Käferfalle. Dort werden mithilfe eines Gazezelts Insekten gesammelt, um später gezählt und ausgewertet zu werden. Und eine Wetterstation misst alle entsprechenden Daten. Schon jetzt im Sommer 2022 ist beispielsweise klar, dass in Deutschland ein Großteil der Biomasse an Insekten in den letzten 20 Jahren verschwunden ist.

Wissenschaftlich gelöst werden soll das Problem mithilfe des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Vorhabens „AMMOD – Automatisierte Multisensor-Station für das Monitoring von Biodiversität“, ein Zusammenschluss mehrerer Partner mit unterschiedlichsten Aufgaben. Koordiniert wird das Gesamtvorhaben vom Leibniz-Institut für Biodiversität der Tiere/Zoologisches Forschungsmuseum Alexander König in Bonn. Hier ist man auf die genetische Identifikation von Insekten spezialisiert, dem sogenannten Metabarcoding. Für die Technische Universität Hamburg koordiniert das Institut für Hochfrequenztechnik (IHF) deutschlandweit die Forschungs- und Entwicklungsarbeiten für die Basisstation solcher AMMOD-Standorte.

Eine Käferfalle, die Insekten zählt

Die Stärke der beiden Energietechniker innerhalb des Norddeutschen Reallabors liegt im Bereich der integrierten Netzplanung, also dem Zusammenbringen des Strom-, Gas- und Wärmenetzes. „Konkret untersuchen wir Endenergiebedarfe und Prognosen sowie Daten über bereits bestehende Netzinfrastrukturen. Vereinfacht gesagt geht es uns darum, Aussagen treffen zu können, wer eigentlich wann wie viel Energie in welcher Form benötigt“, erklärt Christian Becker. Dafür vergleicht er gemeinsam mit Arne Speerforck verschiedene Möglichkeiten für einen koordinierten Netzausbau, also ob Strom direkt vor Ort erzeugt werden sollte oder eine Gas-, Wärme- oder Stromleitung sinnvoller ist. „Unser Stromnetz reagiert höchst empfindlich auf kleinste Veränderungen. Mit dem Voranschreiten der Energiewende hat sich gleichzeitig die Zahl stromerzeugender Anlagen erhöht, die Energie einspeisen.

Windkraftanlage auf dem Energieberg Georgswerder
Hier werden die Messdaten verarbeitet

Wir haben es eben nicht mehr nur mit großen, trägen Kohle- oder Kernkraftwerken zu tun, sondern mit vielen kleinen Wind- und Sonnenkraftwerken“, erklärt Becker. Sind die Wetterbedingungen schlecht, speisen diese Anlagen keinen Ertrag in das Stromnetz ein. Das verändert die Frequenz im Netz. Doch diese müsse laut Becker in einem definierten und engen Bereich liegen, um Netzstabilität zu gewährleisten. Im schlimmsten Fall drohe sonst ein Blackout, also ein Ausfall der Stromversorgung, mit weitreichenden Folgen für ganz Europa. Wird nun der Stromsektor mit dem Wärme- und Gassektor gekoppelt, kann Leistung wieder verstärkt gespeichert und gepuffert werden. Das Stromnetz reagiert dann wieder wesentlich langsamer auf Störungen. „Am Ende geht es uns darum, die beste Lösung für uns Menschen zu entwickeln“, erklären die TU-Forschenden.


Projektleiter Lukas Reinhold vor dem Mast, an dem Mobilfunkantenne und Wetterstation der Basisstation montiert sind.

Informationen zum Projekt unter: https://ammod.de/


Fotos: TU Hamburg, Foto (Bienchen): Pixabay

Landwirtschaft – ökologisch und nachhaltig

Bis zum Jahr 2050 wird der weltweite Wasserbedarf voraussichtlich um die Hälfte steigen, wobei ein Großteil davon auf die Landwirtschaft entfällt. Ein Projekt der TU Hamburg zeigt, wie sich der Wasser- und Düngemitteleinsatz drastisch reduzieren lässt.


Foto: Pixabay

Erbsen, Bohnen, Kartoffeln und Reis. Die Landwirtschaft ernährt uns, aber sie verschmutzt das Grundwasser mit „ungesunden“ Nährstoffen, vor allem mit Nitraten und einer Vielzahl an Bioziden. Diese werden in der Landwirtschaft eingesetzt, um das Wachstum von schädlichen Organismen zu kontrollieren. Das macht sie aber auch potenziell gefährlich für Menschen, die Umwelt und andere Organismen. Gleichzeitig verbraucht Landwirtschaft weltweit etwa 80 Prozent aller Süßwasserentnahmen. Davon werden etwa 40 Prozent allein für den Reisanbau verwendet. Dieser Trend hält schon seit Langem an. Vor allem in den dichtbesiedelten Regionen Süd- und Südostasiens wurden zwischen den 1960er und 1980er Jahren enorme Investitionen in zusätzliche Bewässerungssysteme getätigt, um die Erträge weiter zu steigern.

Dr. Tavseef Shah hat mithilfe seines Teams von der Technischen Universität Hamburg neue Anbaumethoden vor Ort und in Feldversuchen im nordindischen Kaschmir erprobt. Seine Idee ist, den vor allem von der Cornell University in den USA propagierten Trockenreisanbau (System of Rice Intensification, SRI) deutlich zu verbessern. An der TU Hamburg entwickelte er ein Zwischenfruchtanbaukonzept, bei dem verschiedene Kulturen gleichzeitig auf einem Feld angebaut werden. Er kombinierte SRI-Reis mit Buschbohnen. Auf diese Weise konnte der Stickstoffbedarf der Reispflanzen über die Bohnen, die den Stickstoff an ihre Wurzeln binden, gedeckt werden.

Jätroboter beim Einsatz im Labor

Würde man diese Art des Anbaus weltweit anwenden, könnte man etwa 20 Prozent des weltweiten Wasserbedarfs und einen Teil des Düngerbedarfs einsparen. Und die Buschbohnen sorgten für einen zusätzlichen Effekt: Der Unkrautbeseitigungsbedarf, der bei Trockenreis sonst sehr hoch ist, sank um etwa 70 Prozent. Shah baute seine Forschung zu diesem Zweck noch weiter aus und gründete die Arbeitsgruppe „Environmental Robotics“. Parallel zur Entwicklung des Reisanbaus in Kaschmir erfand und baute die Gruppe einen selektiven Jätroboter, der über eine automatische Pflanzenerkennung verfügt und so in der Lage ist, mechanisch und ohne Chemikalien nur das Unkraut zu entfernen, das für die Pflanzen schädlich ist. Diese Entwicklung befindet sich im Prototypenstatus und wird von dem Doktoranden Durga Nasika geleitet.

Jätroboter beim Einsatz im Labor


Dr.-Ing. Tavseef Mairaj Shah, Technische Universität Hamburg


Nächster Halt: Fahrerlos

Transportroboter, die sich autonom im Straßenverkehr bewegen können und mit anderen Fahrzeugen vernetzt sind: Daran arbeitet das TaBuLa-LOGplus-Projekt und entwickelt dafür eine smarte Leitstelle.


Foto: TU Hamburg

Deutschland will beim autonomen Fahren ganz vorne mitspielen. 2021 hat die Bundesregierung dafür den ersten Schritt getan und ein neues Gesetz verabschiedet. Als erster Staat weltweit erlaubt es Deutschland, dass Fahrzeuge ohne Fahrer an Bord am öffentlichen Straßenverkehr teilnehmen. Die Regelung gilt bundesweit, wenn auch vorerst in festgelegten Bereichen und unter technischer Aufsicht. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der TU Hamburg haben schon drei Jahre vor der Gesetzesänderung die Weichen für die Mobilität der Zukunft gestellt. Wie sie in der schleswig-holsteinischen Kleinstadt Lauenburg/Elbe einen automatisierten Personennahverkehr erfolgreich auf die Straße brachten, berichtete spektrum bereits in Ausgabe 02/2019.

Nachbau des Shuttles

Während des rund zweijährigen Testbetriebs hat der elektrisch betriebene Minibus TaBuLa-Shuttle knapp 7.500 Kilometer zurückgelegt und mehr als 4.500 Fahrgäste an ihr Ziel gebracht. Ein ganz besonderer Gast an Bord war dabei der kleine Transportroboter Laura. Mit ihm wurde in dem Folgeprojekt TaBuLa-LOG der automatisierte Personen- und Gütertransport kombiniert. Auf vier Rädern lieferte Laura ein halbes Jahr lang die Behördenpost der Stadt aus und bewegte in Summe ganze 180 Kilogramm. Im Huckepackverkehr nutzte der Roboter dafür den Minibus, genau wie seine menschlichen Mitfahrerinnen und Mitfahrer. An ihrer Haltestelle angekommen, legte Laura die restlichen Meter allein zurück, zumindest fast.

Foto: TU Hamburg


„Sowohl der Bus als auch der Roboter mussten vor Ort und rund um die Uhr von einer Person begleitet werden. Das hatte rechtliche, aber auch sicherheitsrelevante Gründe, die allerdings zulasten der Wirtschaftlichkeit gingen“, sagt Verkehrsforscherin Sandra Tjaden vom Institut für Verkehrsplanung und Logistik. In Zusammenarbeit mit dem Institut für Technische Logistik und Partnern aus der Industrie soll das Projekt nun in eine dritte Phase gehen: „Das neue Gesetz erlaubt es, unsere Entwicklungen weiter voranzutreiben. Bus und Transportroboter sollen im Projekt TaBuLa-LOGplus autonomer, die Verkehrs- und Transportmittel noch stärker miteinander vernetzt werden. Damit wollen wir wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer werden“, erläutert Tjaden das gemeinsame Vorhaben. Die Lösung verspricht sich das Projektteam von einer smarten Leitstelle.


Projektleiterin Sandra Tjaden


Fotos: TU Hamburg

Warum sollen Roboter tauchen?

Autonome Tauchroboter können helfen, Kaimauern, Spundwände oder Schleusen unter Wasser zu inspizieren. Sie ermitteln Verschmutzungsquellen und leisten sogar bei Schiffsunfällen oder Überschwemmungen gute Dienste.


Der Tauchroboter an Land

„Für unsere Forschung setzen wir einen Tauchroboter in der Größe eines Bierkastens ein. Mit seinen acht elektrischen Düsenantrieben kann er beliebige Drehlagen und Positionen im Wasser einnehmen. Darüber hinaus befinden sich eine Unterwasserkamera sowie vier LED-Scheinwerfer an Bord, damit der Roboter auch im dunklen oder trüben Wasser noch etwas erkennt. Außerdem kann er um Sensoren und Geräte erweitert werden, was ihn als experimentelle Plattform interessant für unsere Forschung macht. Denn unter Wasser gelten ganz andere Gegebenheiten als an Land: Kommunikation per Funk und Navigation mit GNSS-Satelliten funktionieren dort nicht. Deshalb orientiert und verständigt sich der Roboter akustisch per Ultraschall. An unserem Institut haben wir hierzu ein Open-Source Akustik-Modem namens „ahoi“ entwickelt, das es ermöglicht, digitale Daten wie beispielsweise Temperatur oder Sauerstoffgehalt in akustische Signale, also Schallwellen, umzuwandeln und damit unter Wasser Daten zu übertragen.

Der Tauchroboter im Einsatz

Akustische Unterwasserkommunikation ist leider ähnlich langsam wie es einst analoge Internetmodems waren. Hochauflösende Bilder werden daher auf dem Roboter lokal gespeichert und nach dem Einsatz ausgelesen. Stattdessen sendet der Roboter aktuelle Positions-, Sensor- und Zustandsdaten an eine Leitstation und erhält Zielkoordinaten von ihr.
Eine weitere Herausforderung ist die Energieversorgung, die der Roboter für die Fortbewegung benötigt. Mit einer Akkuladung sind nur wenige Stunden Einsatzzeit erreichbar. Hier könnten Ladestationen – ähnlich wie bei Rasen- oder Staubsaugerrobotern – in Bojen eingesetzt werden, die der Roboter bereits zur Navigation verwendet. Einen ersten Prototyp einer Boje, allerdings noch ohne Aufladefunktion, hat mein Team bereits entwickelt. Die Bojen dienen derzeit als Kommunikationsschnittstelle zwischen der Über- und Unterwasserwelt. Als Basis für einen ersten Prototyp ohne Aufladefunktion verwenden wir eine kleine Tonne mit Schraubverschluss, wie man sie beim Kanufahren benutzt, um dort die Wertsachen wasserdicht zu verstauen. Denn im Gegensatz zum Roboter ist die restliche Technik wasserscheu.“

Das Team vom Institut für Autonome Cyber-Physische Systeme

Prof. Bernd-Christian Renner
leitet das neue Institut für Autonome Cyber-Physische Systeme


Fotos: TU Hamburg

Norddeutsche Allianz für die Energiewende

Neben Instituten der TU Hamburg forschen am Norddeutschen Reallabor rund 50 Unternehmen, Institutionen und Forschungseinrichtungen mit dem Ziel, auf kohlenstoffhaltige Rohstoffe zu verzichten, den Energieverbrauch zu senken und erneuerbare Energien zuverlässig zu nutzen


Das Stromnetz reagiert empfindlich

Auf dem geteilten Bildschirm der Energietechniker Christian Becker und Arne Speerforck ploppen mit einem Klick unzählige Tabs auf. Komplexe Grafiken, PowerPoint-Dateien und Dokumente reihen sich nahtlos aneinander. Auf den ersten Blick lässt sich bereits erahnen, dass der Weg zur Klimaneutralität kein leichter ist. Der Grund dafür liegt für die TU-Professoren auf der Hand: Strom, Wärme, Gas und Mobilität wurden bislang getrennt voneinander betrachtet und Lösungsansätze individuell zugeschnitten, ohne das große Ganze im Blick zu haben. „Eine Energiewende ist nur möglich, wenn wir verstehen, wie wir all diese Bereiche zusammenbringen können. Was wir brauchen, ist ein besseres und günstigeres Gesamtsystem, von dem alle profitieren. Daran arbeiten wir“, sagen die beiden Wissenschaftler.

Arne Speerforck und Christian Becker arbeiten an der Netzsicherheit

Die Stärke der beiden Energietechniker innerhalb des Norddeutschen Reallabors liegt im Bereich der integrierten Netzplanung, also dem Zusammenbringen des Strom-, Gas- und Wärmenetzes. „Konkret untersuchen wir Endenergiebedarfe und Prognosen sowie Daten über bereits bestehende Netzinfrastrukturen. Vereinfacht gesagt geht es uns darum, Aussagen treffen zu können, wer eigentlich wann wie viel Energie in welcher Form benötigt“, erklärt Christian Becker. Dafür vergleicht er gemeinsam mit Arne Speerforck verschiedene Möglichkeiten für einen koordinierten Netzausbau, also ob Strom direkt vor Ort erzeugt werden sollte oder eine Gas-, Wärme- oder Stromleitung sinnvoller ist. „Unser Stromnetz reagiert höchst empfindlich auf kleinste Veränderungen. Mit dem Voranschreiten der Energiewende hat sich gleichzeitig die Zahl stromerzeugender Anlagen erhöht, die Energie einspeisen. Wir haben es eben nicht mehr nur mit großen, trägen Kohle- oder Kernkraftwerken zu tun, sondern mit vielen kleinen Wind- und Sonnenkraftwerken“, erklärt Becker. Sind die Wetterbedingungen schlecht, speisen diese Anlagen keinen Ertrag in das Stromnetz ein. Das verändert die Frequenz im Netz. Doch diese müsse laut Becker in einem definierten und engen Bereich liegen, um Netzstabilität zu gewährleisten. Im schlimmsten Fall drohe sonst ein Blackout, also ein Ausfall der Stromversorgung, mit weitreichenden Folgen für ganz Europa. Wird nun der Stromsektor mit dem Wärme- und Gassektor gekoppelt, kann Leistung wieder verstärkt gespeichert und gepuffert werden. Das Stromnetz reagiert dann wieder wesentlich langsamer auf Störungen. „Am Ende geht es uns darum, die beste Lösung für uns Menschen zu entwickeln“, erklären die TU-Forschenden.

Christian Becker
Arne Speerforck

Wie eine Energiewende gelingen kann, soll das größte Verbundprojekt Deutschlands herausfinden: das Norddeutsche Reallabor. Bis 2035 sollen jährlich rund 500.000 Tonnen an CO2-Emissionen eingespart und diese langfristig um bis zu 75 Prozent gesenkt werden.


Fotos Isadora Tast, Shutterstock

Schifffahrt klimaneutral machen

Alternative Kraftstoffe wie grünes Methanol können dafür sorgen, dass die Klimaziele in der Schifffahrt eingehalten werden. Ein TU-Verbundprojekt erforscht die Praxistauglichkeit im Detail.


Auch der Schiffsmotorenprüfstand an der TU Hamburg soll auf Methanol umgestellt werden

Ob Tanker, Container- oder Kreuzfahrtschiff: Bislang ist es so, dass die gewerbliche Schifffahrt mit fossilem und meist schadstoffbelastetem Schweröl unterwegs ist. Das schädigt die Umwelt und vor allem das Klima. Thilo Jürgens-Tatje betreut im Schiffsmaschinenbau das Projekt E2-Fuels. Er möchte gerne daran mitwirken, weg vom Diesel oder fossilem Gas und hin zu klimaneutralen Antriebsstoffen zu kommen, die sich für den praktischen Einsatz an Bord eignen. „Eine Elektrifizierung wie bei Autos ist häufig nicht möglich, zu groß und zu schwer wären entsprechende Batterien. Daher benötigt man als Ausgangsstoff Wasserstoff, der aus regenerativem Strom aus Wind und Sonne erzeugt wird“, erklärt der Wissenschaftler. Doch die Nutzung von Wasserstoff als Schiffskraftstoff bringt einige Nachteile mit sich. So werden für die Speicherung extreme Drücke oder Temperaturen nahe des absoluten Nullpunkts von minus 273 Grad benötigt.
Deshalb ist noch ein Umwandlungsschritt zu einem mobilen synthetischen Kraftstoff nötig. Diese Verfahren nennt man Power-to-X. Im kleinen Stil wird solches Methanol bereits seit Längerem als Schiffskraftstoff eingesetzt, etwa auf Tankern oder Fähren.

Es handelt sich dabei um einen flüssigen Alkohol, der gut transportiert werden kann und eine weitere positive Eigenschaft aufweist: Im Fall einer Havarie ist kein gefährlicher Ölteppich zu befürchten, das Methanol löst sich einfach im Wasser auf – als würde man eine Flasche Schnaps in die volle Badewanne kippen. Um den ganzen Prozess wirtschaftlich zubetreiben, setzt man inzwischen auf Wasserstoff, der mithilfe von Sonnenenergie in Äquatornähe produziert und per Schiff zu uns gebracht wird“, erläutert der Schiffbauer. „Strom ist bei uns auf lange Sicht einfach zu kostbar. Dennoch brauchen wir Pilotanlagen auch in Europa, um das Henne-Ei-Problem zu lösen.“ Und so könnte sich Methanol als Energieträger durchsetzen

Auch der Schiffsmotorenprüfstand an der TU Hamburg soll auf Methanol umgestellt werden


Thilo Jürgens-Tatje ist Mitarbeiter der Arbeitsgruppe Schiffsmaschinenbau und betreut das Projekt E2Fuels in Theorie und Praxis.


Fotos: Christian Schmid, Shutterstock

Entlastung für den Regenwald

Das Start-up COLIPI hat eine nachhaltige Alternative zum Palmöl entwickelt, das immer noch in vielen Kosmetika und Lebensmitteln steckt.


Die COLIPI-Gründer Jonas Heuer, Max Webers, Philipp Arbter und Tyll Utesch

Palmöl ist ein echter Klimakiller. Etwa 19 Millionen Hektar Regenwald wurden dafür bereits rund um den Äquator gerodet und verbrannt. Das setzt nicht nur eine große Menge CO2 frei, sondern zerstört auch den Lebensraum bedrohter Tierarten. Da das Pflanzenöl aber nicht nur in Brennstoff, sondern laut World Wide Fund For Nature (WWF) auch in jedem zweiten Produkt aus dem Supermarkt steckt, importiert Europa trotzdem pro Jahr bis zu sieben Millionen Tonnen Palmöl. Die Gründer des Start-ups COLIPI wollten diesen Vorgängen nicht weiter tatenlos zusehen. Sie entwickelten eine nachhaltige Alternative zum verpönten Palmöl, die zusätzlich CO2-neutral ist: ein Öl, das mithilfe von Hefen hergestellt wird. Mit ihrer Technik möchten die Gründer die Kosmetik- und Lebensmittelindustrie nachhaltig revolutionieren.

Mit dem „grünen“ Öl können Palmöl oder Kakaobutter nachempfunden, aber auch ganz neue Öle ohne natürliches Vorbild entwickelt werden. Aus dem EXIST-Förderprogramm hat das Start-up eine Finanzspritze erhalten, die sie in die Ausweitung der Ölproduktion vom Labormaßstab hin zur industriellen Produktion stecken. So sei die Nachfrage nach dem Hefeöl in kommerziellen Produkten bereits groß, denn das Bewusstsein für mehr Nachhaltigkeit wächst. „Produkte, die auf CO2-neutralen Ölen basieren, bringen Unternehmen der Kosmetik- und Lebensmittelindustrie einen klaren Marktvorteil, da möchte niemand zu spät auf den Zug aufspringen”, betont Max Webers.


Foto: Thea Brandauer

Inspektor auf vier Beinen

Den Zustand von Bauwerken überprüfen, ohne dass jemand vor Ort sein muss, das machen kleine laufende Roboterhunde und viele intelligente Schnittstellen möglich.


Erste Hilfe für Brücken

Sie sind schwarz und besitzen vier Klappbeine und zwei Leuchtaugen. Wenn sie angelaufen kommen, klingt es ein wenig wie eine alte Dampflokomotive, die Druck ablässt. Dabei sind sie agil, wendig und können sogar auf Kommando Männchen machen und Purzelbäume schlagen. Aber auch wenn sie nicht bellen, sind die Roboterhunde, die man im Institut für Digitales und Autonomes Bauen antreffen kann, so intelligent, dass sie als Inspektoren auf Baustellen eingesetzt werden können.

Auf ihren vier Beinen bewegen sie sich sicher auf unwegsamem Untergrund und betreiben Schadensanalysen, indem sie Risse in den Bauwerken erkennen. Mit ihren Augen, einer eingebauten Kamera, nehmen sie Bilder vom Objekt auf und bestimmen dabei ihren Standort.

Eine Kamera als Augen


„Das Ziel ist es, dass sich die Roboter eigenständig in den Bauwerken zurechtfinden können“, erklärt Institutsleiter Prof. Kay Smarsly. Sobald sie bei ihren Kontrollgängen Auffälligkeiten im Beton messen, zum Beispiel Risse, sollen die verantwortlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf der Baustelle sofort digital benachrichtigt werden. Das erleichtert nicht nur die Bauarbeiten, sondern macht auch die Gebäude sicherer. „Wenn die Roboterhunde umherlaufen, machen sie Bilder und senden einen rotierenden Laserstrahl aus, mit dem sie das Objekt ausmessen“, erläutert Professor Smarsly. „Das Besondere ist, dass die Daten von einer Künstlichen Intelligenz gesammelt, verarbeitet und verschickt werden.“ Aus all diesen Daten wird ein digitaler Zwilling entwickelt. Das ist ein Computermodell, das mit den gesammelten Daten und Bildern gefüttert wird und daraus ein Duplikat der Wirklichkeit als Karte erstellt. „Diese Bilder entsprechen einer ersten Bestandsaufnahme“, so der Wissenschaftler, „und dienen der Schadensanalyse.“ Der Einsatz der wendigen Roboterhunde eignet sich vor allem für Brücken und andere Infrastrukturbauten, in denen ein Mensch sich nicht leicht und sicher bewegen kann.


Prof. Kay Smarsly leitet an der TU Hamburg das Institut für Digitales und Autonomes Bauen (IDAC). Sein Forschungsgebiet ist die Bauinformatik: die Digitalisierung im Bau- und Umweltingenieurwesen, von digitalen Computermodellen über intelligente Materialien bis hin zur Robotik auf Baustellen.


Fotos: TU Hamburg

Berührungslos Epilepsie erkennen

Epilepsie ist eine Regulierungsstörung des Gehirns. Wird sie nicht behandelt, äußert sie sich bei Erwachsenen in Form von Krämpfen oder Bewusstlosigkeit. Bei Kleinkindern kann die Krankheit sogar tödlich enden.


160 feine Schichten aus Kupfer und Nickel bilden das Nanopflaster

Epilepsieforschung erfolgt in der Regel nur an spezialisierten Zentren. Dabei werden Hirnströme mithilfe eines EEGs (Elektroenzephalographie) gemessen und analysiert. Dies kann nur über kurze Zeiträume von wenigen Stunden stattfinden und schränkt die Personen während der Messungen sehr stark ein, da sie verkabelt sind und sich nicht bewegen dürfen. Deshalb untersucht Prof. Alexander Kölpin vom Institut für Hochfrequenztechnik (IHF) der Technischen Universität Hamburg im Rahmen des öffentlichen Förderprojekts BrainEpP ein Verfahren, das berührungslos und kontinuierlich ein Monitoring der Herzkreislauffunktionen ermöglicht. Aus den gemessenen Parametern kann auf die Aktivierung des autonomen Nervensystems geschlossen werden. Es wird von zwei Systemen mit gegensätzlicher Wirkung gesteuert: dem Sympathikus und dem Parasympathikus. Zusammen regulieren sie lebenswichtige Körperfunktionen wie die Atmung, den Herzschlag oder die Verdauung. Die Feinstruktur extrahierter Herzsignale gibt darüber Aufschluss, wie gut diese Regulierung erfolgt. Hieraus lassen sich nicht nur epileptische Anfälle ohne EEG schätzen, es sollen auch schon vor einem Anfall beginnende Störungen erkannt werden.

Bei einem solchen Alarm könnte der Anfall medikamentös unterdrückt und die Lebensqualität vieler Betroffener erhöht sowie das Risiko des Versterbens bei einem Anfall reduziert werden. „Denn“, so Kölpin, „man vermutet, dass bis zu 20 Prozent aller so bezeichneten plötzlichen Kindstode mit einem unerkannten epileptischen Leiden zusammenhängen.“


Erste Testversion eines Hochfrequenzinterferometers

Projektpartner von Prof. Alexander Kölpin im vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Projekt BrainEpP sind das Universitätsklinikum Erlangen sowie die Firmen Geratherm Respiratory, Silicon Radar, DeMeTec und Voigtmann.